Leseprobe
1. Kapitel:
Wofür Sie wie promovieren,
ist entscheidend
„Bin ich, was andere mir sagen?
Bin ich, was ich selbst von mir weiß?“
1.1 Über das Wie zum Was
Lampenfieber ist so eine Sache: Es soll Leute geben, Bühnenschauspieler zum Beispiel, die brauchen es zur besseren Konzentration. Laura war allerdings keine Schauspielerin, sondern eine ganz normale wissenschaftliche Mitarbeiterin, die gerade promovierte. Und an jenem Tag stand ein Promotionsgespräch bei ihrem Doktorvater Professor Cornelius an. Da der Professor seine Promotionsgespräche grundsätzlich bei sich zu Hause führte, hatte sie sich pünktlich und gut vorbereitet auf den Weg zu ihm gemacht, doch mit jedem Meter, den sie sich dem Haus von Cornelius näherte, nahm das Lampenfieber zu. Laura hasste das! Als sie vor der großen, schweren, hölzernen Haustür stand, fühlte sie sich wie eine Hürdenläuferin vor dem Finale der Olympischen Spiele. Die Anspannung hätte größer nicht sein können. Noch dazu knurrte Lauras Magen lautstark. Die junge Doktorandin hatte seit dem Vormittag nichts mehr gegessen, aber sie hätte sowieso keinen einzigen Bissen runtergebracht. Sie fühlte ihren Herzschlag, der noch schneller wurde, als sie den gusseisernen Klingelknopf drückte und das dumpfe „Ding Dong“ im Inneren des Hauses hörte.
„Ja bitte?“, ertönte gleich eine ziemlich helle, aber sehr klare Stimme. Die gehörte Professor Cornelius und passte zu dessen Typ wie die Faust aufs Auge. Laura war erst seit ein paar Monaten am Institut angestellt und kannte den Professor noch nicht so gut. „Live“ hatte sie ihn nur einmal erlebt, im Bewerbungsgespräch, als einen eher ruhigen, sachlichen Herrn mittleren Alters. „Mit Temperament ist der Mann nicht unbedingt gut ausgestattet“, hatte Laura damals gedacht. Irgendwie farblos und für Laura überhaupt nicht greifbar.
„Hier ist Laura Schilberg!“, antwortete Laura artig und beugte sich dabei ein bisschen vor, um besser von der Sprechanlage wahrgenommen zu werden.
„Ah ja, einen Moment bitte!“, antwortete die Stimme. Laura nahm ihre Nervosität deutlich wahr; ihre feuchten Hände waren ein sicheres Indiz. Vom Kloß im Hals ganz zu schweigen. Sie war gespannt, wie es laufen würde und ob sie heute ein besseres Bild von ihrem Doktorvater bekäme. „Reiß dich zusammen, was kann schon passieren!“, versuchte sie sich selber zu beruhigen. Schließlich hatte sich Laura intensiv im Vorfeld des Gesprächs mit ihrer Promotion beschäftigt, ein Buch über das Promovieren gelesen und die Promotionsordnung studiert. Sie kannte den Ablauf und die Regeln des Verfahrens im Detail. Zum Inhalt ihrer Promotion hatte sie ein Thesenpapier verfasst und noch am Vortag eine ganze Stunde lang am Text gefeilt. Was hätte sie mehr tun können? Und trotzdem war sie unglaublich nervös!
Professor Cornelius öffnete die Tür. „Guten Tag, Frau Schilberg!“, begrüßte er Laura freundlich und reichte ihr die Hand. „Schön, dass Sie da sind. Bitte, kommen Sie doch herein!“
Der Professor trug an diesem Abend keinen Anzug, wie sonst im Institut, sondern war ganz leger gekleidet. Wie Laura auch. Er trug eine etwas betagte Jeans und einen grauen Pullover.
„Guten Abend, Herr Professor Cornelius!“
Artig und ganz Gentleman trat Professor Cornelius einen Schritt zurück und bat Laura mit einladender Geste herein. Er nahm ihr den Mantel ab, hängte ihn in die Garderobe und führte sie durch das große Wohnzimmer mit den vielen alten Jugendstilmöbeln in den Wintergarten.
„Bitte setzen Sie sich, Frau Schilberg!“, sagte Professor Cornelius und deutete mit einer Handbewegung auf einen der voluminösen Sessel.
„Danke!“, antwortete Laura und ließ ihren Blick ein wenig umherschweifen. Ihr Blick fiel durch die großen Glasscheiben hinaus in den sehr gepflegten Garten mit dem großen Teich.
„Möchten Sie auch etwas trinken?“
„Ja gerne! Ein Glas Wasser bitte“, hörte Laura sich sagen und saß ziemlich verspannt in einem der erstaunlich bequemen Sessel. „Ist ja richtig nett hier“, dachte sie sich. Professor Cornelius ging in Richtung Küche, um die Getränke zu holen, Laura legte ihren Hefter auf den Couchtisch und drehte ihn gleich so, dass er für Professor Cornelius von der anderen Seite des Tisches lesbar war.
Cornelius kam mit einem Tablett zurück und füllte zwei Gläser mit stillem Mineralwasser. Daneben stellte er eine Schale Cracker und eine Schale Obst. „Greifen Sie zu, wenn Sie mögen!“, ermunterte er sie und deutete mit der rechten Hand auf die gläsernen Schalen. Ganz langsam ließ Lauras anfängliche Nervosität nach. Da sie einen Bärenhunger hatte, ließ sie sich das nicht zweimal sagen und griff beherzt zu den Crackern. Cornelius setzte sich auf den gegenüberliegenden Sessel, nahm ebenfalls einen Cracker und lehnte sich entspannt zurück. Lächelnd und mit freundlicher Stimme fragte er im Plauderton: „Wie geht es Ihnen, Frau Schilberg?“
„Ich habe die letzten Tage viel an meinem Thesenpapier gearbeitet“, antwortete Laura kompakt. „Ich denke, ich weiß jetzt, welches Thema geeignet ist.“
Der Professor schaute Laura für einen Moment schweigend, aber mit einem netten und beruhigenden Lächeln an. Dann fragte er nach einem weiteren Moment und immer noch lächelnd: „Und wie geht es Ihnen?“
„Äh …, gut!“, meinte Laura mit ehrlichem, aber leicht verzagtem Tonfall. Ein bisschen verwundert war sie schon über die Reaktion ihres Doktorvaters. Denn die war alles andere als sachlich und nüchtern und brachte die junge Frau ein wenig aus dem Konzept.
„Das freut mich!“
„Nach dieser Begrüßungsfloskel kann es dann ja endlich einmal losgehen“, dachte sich Laura. Sie saß schon auf heißen Kohlen und konnte es fast gar nicht mehr erwarten, loszulegen. In der Hoffnung, ihre Gedanken dabei etwas sortieren zu können, nahm sie einen kräftigen Schluck Wasser. Während sie trank, schaute sie ihren Professor an. Die Blicke der beiden trafen sich. Freundlich und offenbar mit der Welt zufrieden, lächelte Cornelius seine Doktorandin an. Laura stellte ihr Glas wieder ab. „Jetzt aber“, dachte sie sich und nahm ihre Unterlagen zur Hand.
„Nach dem Stand der Technik gibt es niemanden, der bislang …“ Laura begann ihren Vortrag, indem sie den Kern ihres Thesenpapiers ausführlich erläuterte. Professor Cornelius hörte der jungen Frau aufmerksam zu. Das konnte man an seinem Mienenspiel erkennen. Mal nickte er zustimmend, dann schaute er wieder kritisch drein. Mit einem leichten Hin- und Her- schütteln seines Kopfes gab er zu erkennen, dass er in manchen Punkten anderer Meinung zu sein schien. In jedem Fall folgte der Professor dem detailreichen Vortrag, der mit Fachvokabular, ordentlich recherchierten Daten, Zahlen und Fakten gespickt war.
Als Laura geendet hatte, war sie zunächst einmal zufrieden mit sich und ihrer Leistung. Die anfängliche Nervosität hatte sich verflüchtigt, doch nun stieg bei ihr die Spannung. Vor allem, als Professor Cornelius nach einigen Augenblicken zu einer Frage ansetzte. Laura schärfte ihre Aufmerksamkeit. Schließlich wollte sie die Frage zu ihrem Thesenpapier sachlich einwandfrei und gekonnt beantworten. Mit Spannung erwartete die junge Doktorandin die erste Frage ihres Professors. „Wo wird er zuerst nachhaken?“, fragte sich Laura. Welches Detail würde sich ihr Doktorvater wohl aussuchen? Sie schaute ihn mit großen, erwartungsvollen Augen an.
„Und was ist Ihnen wichtig?“, fragte Professor Cornelius sehr ruhig mit einem charmanten Lächeln. „Ich meine, in unserem Gespräch?“
„Dass ich die Problemstellung exakt kenne, wenn wir nachher fertig sind“, antwortete die Doktorandin wie aus der Pistole geschossen. „Insbesondere bei der Frage, was später die Messungen angeht.“ Laura begann einen weiteren, sehr detailreichen Vortrag und erläuterte drei Varianten potenzieller Vorgehensweisen, die sie jeweils mit Pros und Contras sehr ausführlich bewertete. Professor Cornelius hörte erneut aufmerksam und interessiert zu. Der erfahrene Hochschullehrer vermied es, seine Doktorandin zu unterbrechen, und wartete geduldig, bis sie eine Denkpause einlegte. Auch wer nur redet, muss mal nachladen.
„Wie gehen Sie eigentlich mit Druck um, Frau Schilberg?“, fragt Professor Cornelius. Laura war ein bisschen verwirrt. Was sollte diese unsachliche Anmerkung?
„Wie bitte?“, fragte Laura nach und wollte sich vergewissern, dass sie sich nicht verhört hatte.
„Mich interessiert, wie Sie mit Druck umgehen, Frau Schilberg!“
„Naja, wenn ich Druck habe, dann suche ich verschiedene Lösungen und wähle die beste aus“, antwortete Laura knapp. „Aktuell ist dies für mich zum Beispiel die Frage: Welche Problemstellung ist für meine Dissertation die beste?“
Laura schaute ihren Doktorvater an, und dieser erwiderte den Blick. Und plötzlich stellte sich eine Pause ein, diese berühmte Stille, in der man eine Stecknadel fallen hört. Die Doktorandin wusste nun gar nicht mehr, was Sache war. Cornelius saß seelenruhig da und lächelte nur. „Offenbar denkt er über die Varianten nach“, interpretierte Laura die Situation und sah den Professor erwartungsvoll an. Wieder folgten einige Augenblicke quälender Stille.
„Wo waren Sie eigentlich im Sommerurlaub?“, fragte der Professor, griff erneut in die Cracker, lehnte sich in aller Ruhe zurück und genoss das Salzgebäck. Dabei sah er Laura fragend an. Die verlor nun komplett den Faden.
„Wie bitte?“, fragte sie erneut.
„Wo waren Sie im Sommerurlaub?“
Laura hatte sich also nicht verhört. „Jetzt will der auch noch wissen, wo ich meine Ferien verbracht habe“, dachte sie perplex. „Ja, hat der sie noch alle?!“ Die anfängliche innere Spannung war plötzlich wie weggeblasen und damit auch das Stresspotenzial, das ihre Dissertation erzeugt hatte. Laura fühlte sich innerlich viel ruhiger und cooler, war aber genervt. Sie erzählte Professor Cornelius also von ihrem Urlaub. Irgendwie passte es ihr nicht, aber letztlich zeigte der Smalltalk seine Wirkung. Natürlich beschränkte sich Laura nur auf die Eckdaten. Schließlich war sie hier nicht auf einer privaten Fete, und ihr gegenüber saß keine gleichgesinnte kichernde Freundin mit einem Cocktail in der Hand.
„Schön“, antwortete Cornelius. Sein Gesichtsausdruck ließ unschwer erkennen, dass ihn der Urlaubsbericht seiner Doktorandin tatsächlich interessierte. „Und was haben Sie in den zwei Wochen am meisten genossen?“
„Zeit zu haben!“, antwortete Laura spontan. „Endlich einmal Zeit zu haben. Wissen Sie, ich habe ja im Urlaub die ganze Literatur für den Stand der Forschung gelesen und dieses Thesenpapier geschrieben. Das war sehr interessant. Insbesondere die Erkenntnis, dass …“
Geschickt und bewusst hatte Laura wieder aufs eigentliche Sachthema gelenkt und ging ins Detail ihrer Arbeit. Sie setzte mit ihren Erkenntnissen zum Stand der Forschung verschiedener Forschungsgruppen in der Welt fort und monologisierte über die Unterschiede der wesentlichen Publikationen.
„Was denken Sie, welche Gruppe führend ist?“, fragte Laura schnell, nachdem sie ihren Vortrag beendet hatte, damit der Professor keine Pause für eine erneute Frage hatte, die eventuell wieder weg vom Thema führen konnte.
„Waren Sie allein im Urlaub?“, fragt Cornelius dennoch, ihre Frage ignorierend.
„Nein, mit meinem Freund!“, antwortete Laura zunehmend genervt, gab sich aber alle Mühe, dass der ungehaltene Unterton nicht zu hören war.
„Und was hat der gemacht, während Sie gearbeitet haben?“
„Er war wandern.“
„Und wie fand er es, alleine zu wandern?“ Cornelius schaute Laura an, als wenn er Mitleid mit ihrem Freund hätte. Diese Frage passte Laura nun gar nicht und sie wurde ein wenig ungehalten. Sie konnte ja wohl kaum zu ihrem Professor sagen, dass genau dies ein leidiges Dauerthema des Urlaubs gewesen war. Dreimal hatte sie mit ihrem Freund Benjamin deswegen gestritten.
„Er fand es zwar nicht so toll, aber letztlich war es okay für ihn“, antwortete Laura kurz angebunden und schaute demonstrativ auf die Uhr. Es waren bereits 20 Minuten des für eine Stunde angesetzten Gesprächs vergangen. Laura wurde ungeduldig und kribbelig. Sie versuchte, ihre Unruhe so gut wie möglich zu verbergen, aber ihr Hin- und Herrutschen auf dem Sessel verriet sie.
„Toll, wenn Sie das mit Ihrem Freund im Konsens so hinbekommen. Er ist offenbar sehr tolerant“, bemerkte der Professor. Seine Stimme war voller Anerkennung. Das verstärkte das schlechte Gewissen, das Laura ihrem Freund gegenüber hatte. „Was ist denn für Ihren Freund nicht verhandelbar? Wo ist sein Limit?“
„Jetzt reicht es“, dachte sich Laura. Das ging nun doch zu weit. Unter ihre Ungeduld mischte sich nun auch ein bisschen Wut. „Was sage ich jetzt nur?“, dachte sie und griff nach dem Wasserglas. Um Zeit zu gewinnen.
„Herr Professor Cornelius, ich dachte, wir reden über meine Promotion?“
„Wir sind mittendrin, über Ihre Promotion zu sprechen.“
„Ach ja?“
„Ja!“ Cornelius beugte sich nach vorne und grinste spritzbübisch über seine randlose Brille hinweg. Er sah Laura in die Augen und begann zu erzählen: „Damals, als ich habilitierte, war ich frisch verheiratet und saß jeden Abend und an den Wochenenden schreibend vor dem Rechner. Da fragte mich meine Frau, was denn für mich das Wichtigste an unserem Leben sei.“
„Was haben Sie ihr geantwortet?“
Cornelius schmunzelte. „Ich sagte in Gedanken und ohne den Blick vom Monitor zu nehmen: ‚Dass wir uns nicht trennen, bis einer von uns stirbt.‘“
„Was hat Ihre Frau darauf geantwortet?“
„Sie fragte: Und zwischen jetzt und der Beerdigung?“, antwortete Cornelius und schmunzelte wieder. „An diesem Abend konnte ich keine Zeile meiner Habilitation mehr schreiben. Ich war über mich selber erschrocken!“
Es wurde still im Wintergarten. Laura schaute ihren Professor an und blickte in ein lächelndes, schmunzelndes Gesicht. Dann fiel bei ihr der Groschen. Sie hatte verstanden, was ihr Doktorvater mit dieser kurzen Anekdote sagen wollte. Laura schüttelte den Kopf und musste lachen.
„Sie meinen, es geht bei einer Promotion nicht nur um den Inhalt, sondern auch darum, wie man diese Phase seines Lebens bewusst gestaltet?“
Der Professor nickte. „Genau! Meine Fragen zielten auf das, was Ihnen im Leben wichtig ist. Ihr Wofür! Und deshalb werden wir in jedem Betreuungsgespräch über beides sprechen.“
Laura lachte wieder und schüttelte den Kopf. „Wie konnte ich über die Promotion vergessen, dass es noch andere Dinge gibt, die ich brauche?!“ Dann setzten beide das sachliche Gespräch mit Zahlen, Daten und Fakten in sehr angenehmer und entspannter Atmosphäre fort.
1.2 Theorie
Wofür ist dieses Kapitel gedacht? Wissenschaftliches Arbeiten bedeutet Konzentration auf den Inhalt. Typische Fragen beim Alltag des wissenschaftlichen Arbeitens sind: Was messe ich? Was ist die Bedeutung des Ergebnisses? Was ist der richtige Lösungsansatz? Was ist der Stand der Wissenschaft? Was ist die wissenschaftliche Hypothese? Welche wissenschaftliche Methode wähle ich? All diese Fragen zielen auf den Inhalt. Der Inhalt wissenschaftlicher Arbeit ist natürlich sehr wichtig und in der Regel sogar das einzige Maß für die Bewertung von Dissertationen.
Was wirkt jedoch auf die meisten Menschen motivierend? Die Bedürfnisse, die hinter dem stecken, was Menschen tun. Man könnte auch sagen: Entscheidend für die Motivation ist, wofürMenschen etwas tun! Neben der Strategie, etwas zu tun, um etwas Bedürfnisbefriedigendes zu erreichen, gibt es auch die Variante, etwas zu tun, um etwas Bedürfnisschädigendes zu vermeiden.
Was bringt Sie dazu zu promovieren? Was ist Ihr Bedürfnis dahinter? Oder anders gefragt: Wofür promovieren Sie? Manche Doktoranden promovieren, um zu forschen, manche, um mit einem Doktortitel Karriere zu machen und um bei der Karriere nicht im Nachteil anderen gegenüber zu sein. Andere promovieren, um sich zu beweisen, dass sie es können, um sich später nicht vorwerfen zu müssen, es nicht versucht zu haben, oder einfach, weil in der Familie seit eh und je alle promoviert haben und es einfach dazugehört. Darüber hinaus gibt es noch Hunderte – aus Sicht der jeweiligen Person – gute Gründe für eine Promotion.
Was also ist Ihr Wofür?
Dies muss vor dem Beginn einer Dissertation unbedingt hinterfragt werden. Wenn man später in schwierige Phasen der Promotion gerät, ist es in der Regel das Wofür, das über Durchbeißen oder Abbrechen mitentscheidet. Sollten Sie sich bereits für eine Promotion entschieden haben, können Sie anhand dieses Kapitels Ihre Wahl reflektieren. Auch dies könnte nützlich sein. Falls Sie im Laufe Ihrer Promotion einmal mit den Gedanken spielen, Ihre Promotion abzubrechen, fragen Sie sich, wofür Sie begonnen haben!
Über das Wie zum Was
Die Verbindung zwischen „Wofür Sie promovieren“ und über welchen Inhalt, also über „Was Sie promovieren“, bildet das Wie. Wiewollen Sie promovieren? Im Sinne von: Unter welchen Randbedingungen? Haben Sie hier ein klares Bild? Nur wenn Sie eines haben, können Sie Ihre Promotion gestalten, indem Sie z. B. ein Institut wählen, das die für Sie passenden Randbedingungen bietet. Brauchen Sie intensiven Kontakt zum Professor? Möchten Sie ein familiäres Klima oder eher das anonyme Klima einer schlagkräftigen, oft weltweit renommierten Großorganisation? Promovieren Sie lieber ohne Bindung an ein Institut, z. B. als externer Doktorand? Solche Fragen sind zu klären. In der Folge werden Sie seltener in schwierige Situationen geraten und während Ihrer Promotion stets leichter am Ball bleiben.
Der Inhalt Ihrer Doktorarbeit wird über die Zeit der Promotion an Umfang zulegen. Wie ist es aber mit dem Wie und dem Wofür? Sie werden, wenn Sie sich mit diesem Buch beschäftigen, immer genauer wissen, wie Sie erfolgreich promovieren können.
Neben dem Wofür und dem Wie Ihrer wissenschaftlichen Arbeit gibt es natürlich den Inhalt der Arbeit, das Was. Die Gutachter Ihrer Dissertation werden sich im Wesentlichen auf das Was beziehen. Das Fundament des Wachstums Ihrer Promotion ist Ihr eigenes Wachstum; eine Promotionsschrift wächst, während sie verfasst bzw. ihr Inhalt erzeugt wird, mit Ihnen. Während der Dissertation werden immer wieder Widerstände auftreten, die überwunden werden müssen. Dabei bilden sich Ihr eigener Arbeitsstil und Ihre Kompetenzen zur Bewältigung von Widerständen aus. Das bedeutet, dass auch das Wie der Promotion wächst. Das Wofür als zentraler Motivator sollte idealerweise über die Zeit der Promotion auch mitwachsen, damit Sie bei Widerständen am Ball bleiben.
Was denken Sie, wie oft Sie von Doktoranden in schwierigen Phasen den Satz hören könnten: „Ich würde die Promotion ja am liebsten hinschmeißen, dann wären aber die vergangenen Jahre verloren – deshalb muss ich das jetzt durchziehen!“? In solchen Fällen liegt der Verdacht nahe, dass es nie ein Wofür gab oder derjenige sich sein Wofür hat nehmen lassen. Die Promotion in unserem Sinne ist nicht das am Ende fertiggestellte Buch, sondern die Zeit der Erstellung, an der Sie als Person wachsen. Das Wachstum von Wofür, Wie und Doktorarbeit ist in der folgenden Abbildung dargestellt. Ihr Wofür bildet das Wurzelwerk, das Wie den Stamm und Ihre Kompetenzen sind die wach- sende Krone des Baumes. Dieser Baum trägt später Früchte, Ihre Dissertation.
Zur Konzeption Ihrer Dissertation möchten wir Ihnen ans Herz legen, gleich zu Beginn darüber nachzudenken, wofür Sie promovieren möchten und wie Sie promovieren möchten. Ideal wäre es, diese Überlegung von Zeit zu Zeit zu wiederholen, denn Sie werden sich im Laufe der Promotion verändern, und deshalb ändern sich auch die Antworten auf das Wie der Randbedingungen und das Wofür der Doktorarbeit mit der Zeit.
Baum Metapher
Auf diese Weise können Sie Ihre persönliche Entwicklung verfolgen. Sie stellen z. B. leichter fest, wenn sich Ziele in Ihrem Leben verändern. Dies ist über die Dauer einer Promotion jedenfalls nicht ungewöhnlich.
Das Wertesystem nach Häusel
Eine wichtige Basis für das eigene Wofür sind die eigenen individuellen Lebensprämissen, die oft auch „Werte“ genannt werden. Das sind die Dinge, die Ihnen existenziell wichtig sind.
HÄUSEL [1] leitet dazu her, dass es drei Bereiche gibt, die allen Menschen wichtig sind. Er nennt diese Bereiche die drei großen Emotionssysteme „Stimulanz“, „Dominanz“ und „Balance“:
− „Stimulanz“ bedeutet hier: Entdeckungen machen, neue Dinge probieren, z. B. die Forschung vorantreiben.
− „Dominanz“ bedeutet hier, im Wettbewerb zu bestehen, z. B. mit dem Doktortitel im beruflichen Fortkommen einen Vorteil zu erzielen. Selbstbestimmt zu sein und eigene Entscheidungen zu treffen ist in diesem Sinne Dominanz.
− „Balance“ bedeutet Stabilität und Sicherheit, z. B. die Sicherheit, die Promotionszeit erfolgreich zu absolvieren. Diese drei Systeme spannen eine Fläche auf, in der Lebensprämissen eingeordnet werden können. Dies verdeutlicht die nächste Abbildung.
Wertesystem nach HÄUSEL
Mit geringer Distanz zu Balance finden sich die Lebensprämissen Sicherheit, Geborgenheit oder Heimat. Mit geringer Distanz zu Dominanz finden sich die Lebensprämissen Macht, Elite oder Durchsetzung. Kreativität, Neugier und Humor finden sich nahe an Stimulanz. Weitere Lebensprämissen sind entsprechend ihrem Bezug zu den drei großen Emotionssystemen auf der Fläche angeordnet. Alle Emotionssysteme sind bei jedem Menschen vorhanden, aber unter- schiedlich stark ausgeprägt. Demnach sind für verschiedene Menschen verschiedene Lebensprämissen unterschiedlich bedeutend.
Jedes der drei Systeme ist jedoch wichtig und sollte in ausgewogener Weise Teil des Lebens sein. Was würde passieren, wenn Sie an Ihrer Arbeit nie Spaß hätten (Stimulanz)? Niemals einen Sieg davontragen würden (Dominanz)? Sich Ihres Jobs permanent unsicher wären (Balance)? Es ginge Ihnen damit sicher nicht gut. So wie es bei Laura zu Beginn in der Einstiegsgeschichte der Fall war.
Der Verlauf der Promotionszeit in Bezug auf Kompetenz und Engagement ist individuell verschieden. Je stärker Sie Ihren Lebensprämissen folgen können, umso leichter wird es Ihnen fallen, sich stark zu engagieren und dabei kompetent zu werden. In der folgenden Abbildung sind einige einerseits nicht ganz ernst gemeinte, andererseits jedoch oft beobachtete Varianten dargestellt.
− Der „Berauschte“ ist permanent von Beginn der Promotion an hoch engagiert und wächst stetig in der Kompetenz. Er würde immer sagen: „Es ist einfach nur geil!“ Dieses Modell wird hin und wieder beim Beginn einer Promotion erwartet, trifft aber selten zu.
− Der „Realist“ weiß, dass das Leben und damit wohl auch die Promotion Höhen und Tiefen hat. In den Tiefen erfährt er Widerstände, überwindet sie aber nach dem Motto: „Ich weiß ja, dass es auch wieder bergauf geht!“
− Der „Stimmungsschwanker“ lässt sich schnell beeinflussen und rauscht zwischen „himmelhoch jauchzend“ und „zu Tode betrübt“ hin und her. Kennen Sie so jemanden?
− Der „Durchquäler“ startet engagiert, baut jedoch mit der Zeit ab und beendet die Promotion mit „Hängen und Würgen“. Sein Kommentar: „Ich muss ja jetzt durchhalten, sonst wäre die bisherige Investition in meine Promotion umsonst gewesen.“
− Der „Statustyp“ will den Titel und promoviert nach dem Minimax-Prinzip: minimaler Aufwand für maximale Ausbeute.
Verschiedene Typen von Promovierenden
1.3 Anwendung
Versetzen Sie sich in die Situation nach der Doktorprüfung. Hier gibt es oft eine Laudatio der Kollegen. Was würden Sie dort gerne über sich hören? (Es geht um Ihr Wofür!)
Versetzen Sie sich in die Situation nach der Promotion und schreiben Sie einen Dankesbrief an Ihren Doktorvater. Für was würden Sie sich gerne bedanken? Machen Sie sich klar, für welches Wie Sie danken möchten.
Fragen Sie Freunde und Kollegen, wie eine ideale Promotionsstelle für Sie aussehen müsste. Notieren Sie die Antworten.
Welchen Preis sind Sie nicht bereit, für die Promotion zu bezahlen? Welche Kompromisse können Sie nicht machen? Was könnte für Sie unverhandelbar sein?
Lebensprämissen sind die Dinge, die Sie für sich als Voraussetzungen für ein erfülltes, erfolgreiches Leben gesetzt haben. Die folgende Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Wählen Sie daraus Ihre 5 wichtigsten Lebensprämissen. Suchen Sie deren Position in der Darstellung des Wertesystems nach H (s.o.). Ergänzen Sie ggf. weitere Lebensprämissen, die in der Darstellung von HÄUSEL fehlen.
Wie leben Sie Ihre Lebensprämissen konkret? Was bedeutet das für Ihre Promotion?
Fragen Sie in Ihrem Umfeld nach Ihren Stärken und Schwächen. Überlegen Sie, was dies für Ihr Wofür, Wie und Was bedeutet.
Erzählen Sie Freunden oder Bekannten, wofür Sie promovieren! Beobachten Sie die verschiedenen Reaktionen und notieren Sie, was Ihnen dabei aufgefallen ist.
1.4 Herausforderungen
− Es ist herausfordernd, die Stimmigkeit von Inhalt der Doktorarbeit, Wie und Wofür herzustellen. Oder anders ausgedrückt: Ihre Doktorarbeit, wie Sie arbeiten und leben und wofür Sie promovieren, müssen zusammenpassen.
− Ein Ansatz dazu wäre, eine Ihrem Wofür entsprechende Umgebung aufzusuchen. Dazu müssen Sie sich zunächst Ihres Wofürbewusst werden.
− Stellen Sie sich vor, Sie wüssten genau, wofür Sie promovieren wollen – z.B. um ein bestimmtes Medikament für eine bislang unheilbare Krankheit zu erfinden –, und ein Institut bietet Ihnen diese Möglichkeit. Nun besuchen Sie das Institut und stellen fest, dass die Umstände, unter denen Sie arbeiten müssten (das Wie), Ihnen gar nicht passen. Wäre Ihr Wofür ausreichend stark, um mit dem Wiezurechtzukommen?
− Abschließend eine Bemerkung für die Perfektionisten unter den Lesern dieses Buches: Die Stimmigkeit von Doktorarbeit, Wie, Wofür und Ihren Stärken gelingt nie in absoluter Perfektion. Gestalten Sie die Widerspruchsfreiheit so gut Sie können.
1.5 Das Wichtigste in Kürze
Überlegen Sie sich, wofür, wie und über was Sie Ihre Doktorarbeit schreiben möchten!
Holen Sie sich Feedback zu Ihren Stärken! Machen Sie sich Ihre Lebensprämissen bewusst!
Besprechen Sie Ihr Wofür, Wie und Was mit Ihrem Professor!
Ihr Wofür entscheidet über die Energie, die Sie aus sich selber mobilisieren können. Die zu Ihrem Wie passenden Randbedingungen helfen Ihnen, Energie zu sparen, um diese in das Was, die Wissenschaft, zu investieren.
1.6 Reflexionsfragen
− Was machen Sie, wenn Sie keine Anerkennung von Ihrem Professor bekommen?
− Wann vergeht die Zeit wie im Fluge?
− Welche Vorbilder inspirieren Sie und warum?
− Haben Sie ein Vorbild oder einen Maßstab, an dem Sie sich messen?
− Was brauchen Sie zum erfolgreichen Promovieren?
− Wie würden andere Personen beschreiben, was Sie brauchen?
− Was bedeutet Ihre Dissertation für Ihre Eltern?
− Auf wen hat Ihre Dissertation Auswirkungen?
− Wozu wollen Sie Ihre Doktorarbeit einsetzen?
− Wofür stehen Sie?
− Woran würden Sie im Nachhinein merken, dass Ihre Promotionszeit ein Erfolg war?
1.7 Literatur
[1] Hans-Georg Häusel: Think Limbic!, Die Macht des Unbewussten nutzen für Management und Verkauf, Haufe, 2014
Literaturtipps
Simon Sinek: Frag immer erst, warum: Wie Top-Firmen und Führungskräfte zum Erfolg inspirieren, Redline Verlag, 2014
Jens-Uwe Martens; Julius Kuhl: Die Kunst der Selbstmotivierung, Neue Erkenntnisse der Motivationsforschung praktisch nutzen, Verlag W. Kohlhammer, 2013
Marcus Buckingham; Donald O. Clifton: Entdecken Sie Ihre Stärken Jetzt, Das Gallup- Prinzip für individuelle Entwicklung und erfolgreiche Führung, Campus Verlag, 2007